Sie gilt als eine der längsten Kamerafahrten der Filmgeschichte, und wer den Film gesehen hat, kann die Sequenz nicht vergessen: In Jean-Luc Godard’s 1967 entstandenem Experimentalfilm «Week End» fährt die Kamera während fast zehn Minuten an einer scheinbar endlosen Autokolonne vorbei. Entlang der auf einer Landstrasse im Stau stehenden Fahrzeuge spielen sich skurrile und absurde Szenen ab – ausgebrannte und umgestürzte Autos liegen unbeachtet am Strassenrand, ausgestiegene Autofahrer spielen Schach oder gestikulieren wild, ein Fahrzeug steht mitten in der Kolonne unerklärlicherweise verkehrt zur Staurichtung und durch geöffnete Schiebedächer einzelner Autos werden Bälle hin und her geworfen. Die kommentarlose Kamerafahrt wird begleitetet von einem ohrenbetäubenden Lärm, einem unerträglichen Hupkonzert der unzähligen Autos.
Fliessend und still, stetig und in einem unaufgeregten Rhythmus löst sich ein Bild im nächsten auf. Unter dem Titel Quai de l’Industrie hat Beat Streuli über 50 Bilder aneinandergereiht, die dem Betrachter im Ausstellungsraum als Projektion wandfüllend begegnen. Die langsamen Überblendungen dehnen die Zeit und vermitteln ein Gefühl ruhiger Gelassenheit. Die meisten Bilder zeigen jene spezifische Situation, die heute zumindest für den urbanen Menschen als geradezu archetypisch bezeichnet werden kann: wartend am Steuer eines Autos zu sitzen. Warten, bis die Ampel grün wird, warten, bis alle Fussgänger die Strasse überquert haben, warten, bis sich der stockende Verkehr irgendwann wieder aufzulösen beginnt. Beat Streuli fotografierte die im Stau wartenden Autofahrer im Augenblick dieser erzwungenen Ruhe. Seine auf die Gesichter fokussierten Aufnahmen geben eine Ahnung davon, wie sich genau in diesem Moment die Bewegung gewissermassen nach innen verlagert, wie die Autofahrer mit ihren Gedanken abschweifen und sich selbstvergessen irgendwo verlieren.
Der im Stau festsitzende Autofahrer wird als projiziertes Bild an der Wand sichtbar, um sich einige Sekunden später in der Überblendung des nächsten Bildes zu verflüchtigen. Die gereizte Hektik eines Staus – bremsen, warten, anfahren, bremsen, warten – ist hier wie weggeblasen. Das Nervenaufreibende der im Bild festgehaltenen Szenen transformiert Beat Streuli mit seiner Präsentationsform in einen Moment der stillen Gedankenverlorenheit und einer um sich greifenden Entschleunigung. Der Betrachter wird in einen ruhigen Rhythmus versetzt und gerät in den suggestiven Sog der Bilder, sein Blick tastet die Oberflächen der Karosserien ab, versucht bei den hinter spiegelnden Autoscheiben gerade noch erkennbaren Personen einen Gesichtsausdruck zu erfassen – und schon kommt das nächste Bild, das wie eine Wiederholung des immer Gleichen zu sein scheint.
Der Titel Quai de l’Industrie benennt den Ort in Brüssel, an dem Beat Streuli unzählige Aufnahmen machte, die er dann einer rigiden Kontrolle unterzog. Auch die vereinzelt in die Reihe eingestreuten Fotografien vorbeigehender Passanten sind an jener Kreuzung entstanden, die sich in unmittelbarer Nähe seines Ateliers befindet. Die Bilder der zufällig in den Bereich der Kamera geratenen Autofahrer fokussieren das individuelle Gesicht und betonen gleichzeitig das imaginär Allgemeine. Sie stehen prototypisch für Erfahrungen und für ein Lebensgefühl in einer urbanen Gesellschaft – es bleibt nichts Anekdotisches, nichts Dramatisches, nichts Ortsspezifisches. Einen Quai de l’Industrie gibt es überall.
Um unbemerkt aus einer gewissen Distanz fotografieren zu können, benutzte Beat Streuli auch für diese Werkgruppe ein starkes Teleobjektiv mit einem minimalen Tiefenschärfebereich. Der Hintergrund auf den Bildern verschwimmt, Unschärfen lassen Autoscheiben malerisch abstrakt erscheinen und glänzende Karosserieteile werden trotz ihrer kantigen Härte weich verwischt und teilweise wie entmaterialisiert. Oft ist die Person am Steuer hinter den spiegelnden Frontscheiben, die unseren Blick auf das Individuum nochmals filtern, nur noch erahnbar. Diese Fotografien lassen uns auf einer Ebene etwas sehen, das wir in der Realität grundsätzlich nicht adäquat wahrnehmen können. So blicken wir im Alltag entweder auf ein Fenster oder durch ein Fenster, doch wir sind kaum in der Lage, beide Ebenen im selben Augenblick zu erkennen. Die Kamera hingegen trifft nur mechanische Unterscheidungen und lässt alle Informationsebenen ohne hierarchische Differenzierungen im Bild erscheinen.
Beat Streulis Bilder von Menschen, die sich nicht beobachtet fühlen und keinen Grund zur Pose haben, lassen uns teilhaben an einem flüchtigen, sich uns normalerweise entziehenden Moment intimer Selbstversunkenheit im öffentlichen Raum. Im Auto fühlt sich jeder in ausgeprägter Weise unbeobachtet und deshalb befreit von der Kontrolle des persönlichen Ausdrucks – im Schutz des vermeintlich privaten Raums aus Blech und Kunststoff. Hier glaubt man ein höchstes Mass an Individualität zu leben – im Stau ist man Teil einer anonymen Masse. Beat Streuli stellt beides in Frage.